Rezension
Lutherische Theologie und Kirche, 36. Jahrgang (2012) Heft 4
Das vorliegende Buch füllt eine Lücke, die umso mehr ins Auge fällt, als zu nahezu allen übrigen Bekenntnisschriften, die im Konkordienbuch von 1580 zusammengefasst sind, Forschungen vorliegen, die in den letzten Jahrzehnten unternommen worden sind. Das Buch versteht sich ausdrücklich als Untersuchung, die historische und theologische Gesichtspunkte mit ihren Hintergründen aufeinander bezieht. Das ist bereits an dem thematischen Aufriss abzulesen. Einem im Kopftitel als »Geleitwort« titulierten Abschnitt »Bekennen und Bekenntnis im Luthertum des 16. Jahrhunderts« folgen 9 Kapitel, die bei den theologischen Spannungen unter Luthers Anhängern vor seinem Tod ansetzen (I), sich dem Schmalkaldischen Krieg, dem Interim und dem so genannten Adiaphoristischen Streit widmen (Kolb sieht in dieser historischen Phase »Schauplätze einer Streitkultur«) (II), dem Majoristischen und Antinomistischen Streit folgen (III), die Hintergründe des Synergistischen Streits als Kontroverse über die Erbsünde und die Erwählungslehre verstehen lehren (IV), dem Problem Andreas Osiander und seiner Lehre von der Gerechtigkeit nachgehen (V), sich den Themen Abendmahl und Christologie widmen (VI), die Versuche einer Einigung vor dem Konkordienprozess beobachten (VII), die Rolle von Jakob Andreae als einem der Architekten der Konkordienformel würdigen (VIII) und in einer knappen Übersicht den Reaktionen auf die Konkordienformel im Jahrzehnt nach ihrer Veröffentlichung folgen (IX). Mögen ähnlich gestaltete Darstellungen der Ereignisse zwischen 1540 und 1580 bereits als Übersichten in Lehrbüchern vorliegen, so gibt es bisher keine Maßgaben gegenwärtiger Geschichtsschreibung folgende Darstellung der Bekenntnisgeschichte der Wittenberger Reformation, deren Ergebnisse in der Konkordienformel und im Konkordienbuch zusammengefasst sind. Diesem Ziel widmet sich Kolbs Buch.
Vorgeschaltet sind den 9 Kapiteln knappe Erwägungen mit dem Titel »Konkordienformel. Ihr Sitz im Leben der Spätreformation«. Hier wird der Gegenstand des Buches in die gegenwärtige Forschungsdiskussion eingeordnet (»›Spätreformation‹ und ›Konfessionalisierung‹: Prozess und Epoche aus Sicht der Forschung«). Die geschilderten Kontroversen werden unter dem Thema »Polemik als theologische Methode« zusammenhängend gedeutet. Die im engeren Sinne theologisch-thematischen Kapitel münden jeweils in einem Abschnitt, der darstellt, wie die Konkordienformel auf die stattgefundenen Kontroversen eingegangen ist.
Kolb ist auf seine Darstellung gut durch eine Anzahl von Spezialstudien vorbereitet, in denen er sich seit geraumer Zeit mit einzelnen Phasen und Aspekten der Theologiegeschichte der Wittenberger Reformation zwischen 1540 und 1580 befasst hat. Er schildert jeweils zunächst die historische Situation, in der sich die eigentliche theologische Auseinandersetzung vorbereitet hat, um im Zusammenhang damit die konkreten Fragestellungen zu skizzieren, die zur Debatte standen. Für die Lektüre am besten vorbereitet ist der Leser, der bereits die in der Wittenberger Reformation wurzelnden Grundzüge der theologischen Aspekte und ihre Terminologie kennt, an denen die Kontroversen sich entzündet haben. In diesem Sinne stellt das Buch eine gute Einführung in die Theologie der Konkordienformel dar.
Ein großer Gewinn des Buches speziell für die europäische Reformationsgeschichtsforschung besteht in der Verarbeitung der englischsprachigen Spezialliteratur zur Thematik, wie überhaupt die Hinweise zur Sekundärliteratur außerordentlich ergiebig sind. Gilt Kolb doch, wie es Thomas Kaufmann in seiner Einführung betont, als »heute wohl bester Kenner der lutherischen Theologiegeschichte des konfessionellen Zeitalters in der englischsprachigen Welt« (10). Kaufmann betont auch, dass Kolbs Buch eine Art Gegengewicht gegen eine Deutung der Geschichte des 16. (und 17.) Jahrhunderts bildet, die »Konfessionalisierung« als nahezu auswechselbare Charakterisierung eines Staatenbildungsprozesses versteht, sondern diese Geschichte als »Streit um eine theologische Wahrheit« deutet, »der nachzudenken auch heute für lutherische Theologen als unveräußerliche Pflicht und reicher intellektueller Gewinn zu gelten hat« (11).
Das bedeutet auch, dass dem Leser dieses Buches die institutionelle Verwurzelung der theologischen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts, wie sie z.B. im Fundamentalkonflikt zwischen ernestinischem und albertinischem Sachsen nach dem Schmalkaldischen Krieg und in der Gründung der Universität Jena im Gegensatz zu Wittenberg gegeben waren, als Hintergrund gegenwärtig sein müssen, ohne in ihnen schon die Lösung der theologischen Probleme zu sehen. Die Wahrnehmung dieser Aspekte wird in Kolbs Buch vorausgesetzt wie beispielsweise auch die Bedeutung des dreifachen Gebrauchs des Gesetzes Gottes (vgl. 76). Insgesamt vermittelt die Darstellung der Theologie der Konkordienformel und ihrer Vorgeschichte einen eher thetischen Eindruck – eine Auseinandersetzung mit anderen Interpretationen findet selten statt (so z. B. 117 Anm. 20).
Der Druck enthält nur wenige Fehler. Der Autor der Untersuchung zur homiletischen Theorie Melanchthons heißt Schnell (nicht: Schell, 17 Anm. 12 und 198). Für die Lektüre nützlich gewesen wären durchgängige Querverweise, wie sie mehrfach vorliegen, anderswo, z. B. beim Stichwort »Altenburger Gespräch«, jedoch fehlen.
Angesichts eines solchen weniger bedeutenden Einwands bleibt es dabei: Kolbs Einführung in Geschichte und Theologie der Konkordienformel ist ein großer Gewinn für alle, die nach einem Weg zum Verständnis der Grundlagen lutherischer Theologie fragen.
Ernst Koch