Rezension
Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 109/2011
In dem Titel »Dokumentation der Geschichte« des Sprachen- und Studienkonvikts für den theologischen Nachwuchs verbirgt sich der Kompromiss, eine schon zum 65-jährigen Jubiläum 1997 zusammengestellte umfangreiche Darstellung wesentlich kürzen, korrigieren und ergänzen zu müssen, um letztlich eine Veröffentlichung zu ermöglichen. Zum Opfer fielen u. a. die zeitgeschichtlichen, besonders kirchenpolitischen Bezüge. Die Gründe für die späte und unbefriedigend abschließende Bearbeitung liegen in rechtlichen Prüfungsprozessen und in dem seinerzeit zu groß geratenen Umfang (S. 16).
Nun hat der Autor versucht, zunächst die Anfänge, dann in großen Dekade-Schritten die Entwicklung des Studienkonvikts samt vielen (Personen-)Daten übersichtlich zusammenzustellen. Dabei muss er sich zum eigenen Bedauern überwiegend auf die Berichte der für den Geschäfts- und wissenschaftlichen Betrieb des Hauses Verantwortlichen stützen.
Die Professoren Emanuel Hirsch und Johannes Hempel waren bei der Gründung des Sprachenkonvikts initiativ. Ihr Engagement führte im Jahr 1932 zu einer Einrichtung, in der Theologiestudierende die »alten« Sprachen zügig und ohne hohen Kostenaufwand nachholen konnten, wenn sie sie nicht in der Schule hatten erwerben können. Das fürsorgliche Augenmerk richtete sich zu Beginn aber auch auf solche Studierenden, die aus Broterwerbsgründen das Pfarramt anstrebten, vielleicht ohne eine motivierende Beziehung zum christlichen Glauben zu haben (S. 19).
Das Haus in der später so genannten Robert-Koch-Straße in Göttingen konnte mit Mitteln aus verschiedenen Stiftungen und einem umfangreichen zinslosen Kredit der hannoverschen Landeskirche errichtet werden. Trägerverein und Vorstand (dieser mit bestimmendem Einfluss seitens der Fakultät und der Landeskirche) bildeten durch die Jahrzehnte eine verlässliche Struktur. Allerdings wurde das Studienkonvikt in den dreißiger und vierziger Jahren der nationalsozialistischen Hochschulpolitik unterworfen. Es wurde als Kameradschaftshaus der Deutsch-Christlichen Studentenvereinigung geführt. Alle Studenten mussten den Nachweis der »arischen« Abstammung vorlegen und gehörten der SA an. Verdienst in Partei und Arbeitsdienst führten zu Erlass der Unterkunftskosten. Frühsport und antisemitische Lieder waren üblich.
Während der Kriegszeit diente das Studienhaus als Lazarett, nach dem Kriege als Unterkunft für »Kriegsverschleppte«, Displaced Persons und ihre Familien. Die wechselnden Zuständigkeiten von Militärregierung, Lutherischem Weltbund (für die im Haus wohnenden ausländischen Studierenden) und schließlich deutsche staatliche Stellen ermöglichten erst Anfang der fünfziger Jahre eine Rückgewinnung der ursprünglichen Aufgabenstellung als Sprachenkonvikt.
Der hannoversche Landesbischof Hanns Lilje nahm die Wiedereröffnung der Einrichtung nach dem Krieg am 5. Mai 1952 vor. Bald nach der Wiedereröffnung erhielt das Studienkonvikt die Bezeichnung »Gerhard-Uhlhorn-Studienkonvikt«. Für die Gründe und Entscheidungsprozesse dieser Namensgebung hat Ohlemacher keine Hinweise gefunden. Möglicherweise ist ein Impuls von dem Aufsatz von Cord Cordes über »D. Gerhard Uhlhorn und die soziale Frage seiner Zeit« (JNKG 50/1952, S. 130ff.) ausgegangen. Die Arbeit beleuchtet in besonderer Weise die bis dahin wenig beachtete theologische Auseinandersetzung des Abtes Uhlhorn mit den ökonomischen und sozialpolitischen Fragen seiner Zeit und der Stellung der Kirche zum Sozialismus. Der Autor, Konventual-Studiendirektor des Predigerseminars Loccum, wird sich mit Sicherheit über seine Arbeit mit dem Abt des Klosters, Hanns Lilje, ausgetauscht haben, der selber an Diskussion über die Wirt-schafts- und Weltanschauungsfragen seiner Zeit engagiert teilnahm Außerdem war Uhlhorn natürlich bekannt als nachdrücklicher Förderer der theologischen Aus-und Fortbildung der Pastoren seiner Landeskirche sowie der Verbindung von universitär-wissenschaftlicher und praktisch-kirchlicher Arbeit.
Die Epoche der fünfziger Jahre schildert Ohlemacher unter der Überschrift: Aufbau und Konsolidierung: Lektüreübungen, theologische und nicht-theologische Vortragsabende, Hausandachten, Freizeitaktivitäten, Bibelkunde. Die Sprachkurse fanden in der Fakultät statt.
In den sechziger Jahren wurde der Kontakt zum Ost-Berliner Sprachenkonvikt verstärkt, der sich bis zum Anfang der neunziger Jahre durch eine lebhaften inhaltlichen wie persönlichen Austausch sowie Studienfahrten auszeichnete.
Erst im Wintersemester 1961/62 wurden die drei alten Sprachen wieder im Konvikt selbst unterrichtet. Bauliche Veränderungen, aber vor allem das sich wandelnde Selbstbewusstsein der Studierenden gegenüber der Ordnung des Hauses und akademischen Traditionen führten zu einer gewandelten Atmosphäre seit den siebziger Jahren: stärkere Selbstverwaltung bzw. Mitbestimmung der Studierenden, Aufhebung der gemeinsamen Mahlzeiten mit folgendem Verlust des bisherigen Gemeinschaftsgefühls, fortgesetzte Diskussion politischer Themen, Neuaufbrüche wie die Uhlhorn-lectures mit größerer Öffentlichkeit usf.
Ende des Jahres 1982 wurde ein großes Jubiläum gefeiert (eine Festschrift war in den Anfängen steckengeblieben ([s. o. eingangs]), aber schon zum Jahreswechsel war es mit der Feierstimmung zuende, als ein Synodenausschuss brieflich Sparzwänge ankündigte und um Auskünfte über Sparmöglichkeiten aufgrund landeskirchlicher finanzieller Engpässe ankündigte (S. 147).
Die Geschichte des Göttinger Konvikthauses endete aus Gründen eines weiteren Sparprogramms der Landeskirche im Sommer 1997, gefolgt vom Einzug in das Haus der Studentengemeinde in der Von-Bar-Straße. Der neue Name Evangelisches Studienhaus am Kreuzberg signalisierte, dass nun Studierendengemeinde, Konvikt und (Kontakt-) Studienseminar unter einem Dach mit Synergieeffekten wirken konnten. Eine Intensivierung der Zusammenlebens und des inhaltlichen Programms ergab sich 2003/04 durch die Entwicklung und erfolgreiche Umsetzung eines Leitbildes mit der Ablösung der bisheriger »Übungen« durch interdisziplinäre Gesprächskreise, die Fortentwicklung von Standardangeboten wie der Bibelkunde oder der Sprachkurse, Uhlhorn-lectures u. a. Auf diesem Hintergrund musste die Empfehlung des sog. Perspektivausschusses der Landeskirche im Jahre 2005, das Studienhaus aufzugeben, einen Schock auslösen. 2007 war das Studienkonvikt gezwungen, mit den anderen Einrichtungen in Mieträume umzuziehen, konnte aber bis heute unter Reduzierung seiner Aufgaben den ursprünglichen Auftrag wahren: »Sein Erbe ist nicht verloren gegangen«, resümiert in einem Epilog der verantwortliche Ausbildungsdezernent der Landeskirche, Michael Wöller.
Ein umfangreicher Registerteil, u. a. mit den zeitgeschichtlich sehr interessanten Themen theologischer und anderer Hausveranstaltungen ab 1952, beschließt den Band, der mit seinem umfangreichen Fundus an Dokumenten einen farbigen Eindruck in die bewegte Geschichte einer bewährten landeskirchlichen Bildungs-Institution vermittelt, aber auch anschließenden Reflexionen mit zeitgeschichtlichem Vorzeichen breiten Raum lässt.
Martin Cordes