Rezension
Theologisch-praktische Quartalschrift (165) 2017
Kein anderes Sakrament der katholischen Kirche hat in den vergangenen fünf Jahrzehnten einen so massiven Absturz erfahren wie die Beichte. Und keine andere von Martin Luther hochgeschätzte Praxis der evangelischen Kirche ist im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte so in Vergessenheit geraten wie die Beichte. Das vorliegende Buch »möchte daher zur Wiederentdeckung eines kostbaren Schatzes christlicher Praxis — evangelisch wie katholisch — beitragen.« (11) »Die Idee zu diesem Buch entstand im Anschluss an ein Forschungskolloquium zum Thema ›Beichte und Sündenvergebung im ökumenischen Diskurs‹, zu dem die katholisch-theologische Fakultät der Universität Wien im Dezember 2012 eingeladen hatte.« (13) Seine drei Teile folgen — vereinfacht gesagt — dem Dreischritt Sehen — Urteilen — Handeln. Oder, um es in der Diktion der Herausgeberinnen zu sagen: Phänomene aufspüren — Fragen diskutieren — Handlungsperspektiven entwickeln.
In Teil I »Erfahrungsorte der Befreiung« (19–96) geht es den Autorinnen darum, das Phänomen der Beichte sowohl in kirchlichen als auch in gesellschaftlichen, strafrechtlichen, politischen und therapeutischen Strukturen aufzuspüren. (11) Ralf K. Wüstenberg berichtet von der wieder angebotenen Beichtgelegenheit am Berliner Dom. Hermann Glettler erzählt von der weiterhin lebendigen Nachfrage nach dem Sakrament der Versöhnung an katholischen »Beichtkirchen«. Klemens Schaupp fragt nach angemessenen Beichtformen im Kontext geistlicher Begleitung und in Kooperation mit der Psychotherapie.
Eher grundsätzliche Fragen werfen die drei weiteren Artikel des ersten Teils auf Joachim Zehner fragt nach Möglichkeiten und Grenzen der Versöhnung im Strafrecht des säkularen Staats, insbesondere im Täter-Opfer-Ausgleich, und bringt die s. E. größeren Möglichkeiten der Kirche ins Gespräch, denen gegenüber der Staat nur subsidiär einspringen sollte. Ralf K. Wüstenberg untersucht mit den Paradigmen lutherischer Theologie die Praxis der südafrikanischen Wahrheitskommission, die 1995 eingesetzt wurde, um die Menschenrechtsverbrechen der Apartheitspolitik zu sühnen. Christine Schliesser analysiert die Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda und arbeitet mit hoher Sachkenntnis der Prozesse vor Ort deren Stärken und Schwächen heraus. — Gemeinsam ist den drei hinteren Artikeln des ersten Teils, dass sie die soziale Dimension von Schuld und Versöhnung thematisieren, die in der klassischen Beichte seit deren Privatisierung im Mittelalter ausgeblendet wird. Ob es von daher zutrifft, dass man hier »das Phänomen der Beichte ... aufspürt« (11), kann man hinterfragen. Eher wird deutlich, wie leicht es sich die Kirche mit der Beichte gemacht hat — viel zu leicht, wenn man die tiefen Verletzungen Dritter durch schwere Schuld wahrnimmt.
Dem Teil II „Theologische Wegmarken« (97–170) legen die Herausgeberinnen ein sehr offenes und locker assoziierendes Fragenbündel zu Grunde: »Wie ist in der reichen Geschichte von Kirche und Theologie über Beichte gedacht worden? Wie verhalten sich Beichte und Seelsorge zueinander? Wie Vergebung und Versöhnung? Welches sind die Kernbestandteile von Beichte in den beiden Konfessionen?« (12) Zur Beantwortung dieser weit gespannten Fragen liefert Peter Zimmerling einen Überblick über die Geschichte der Beichte — bis zur Reformation aus westkirchlicher und ab der Reformation aus lutherischer Perspektive. Michael Herbst erschließt durch die Darstellung konkreter Fallbeispiele seelsorgliche Potenziale und Maximen für eine erneuerte Beichtpastoral. Gunter Prüller-Jagenteufel skizziert Schuld und Vergebung in ihrer (inter-) personalen Dimension, die er als hermeneutische Folie einer erneuerten Beichttheologie etablieren möchte. Ralf K. Wüstenberg präsentiert in einer sorgfältigen Auslegung Thesen und Beobachtungen zum Beichtverständnis der Confessio Augustana. Wiederum Gunter Prüller-Jagenteufel fragt, ob die tridentinisch-katholische Bußtheologie die Absolution zurecht als Richterspruch verstanden hat.
Schließlich möchte Teil III »Ökumenische Ermutigungen« (171–234) neue »Perspektiven für die Beichte« entwickeln (12). Peter Zimmerling stellt die Bedeutung der Beichte im Rahmen der Praktischen Theologie seit dem Ende des Ersten Weltkriegs dar. Johann Pock analysiert neue Entwicklungen des »ungeliebten Sakraments« in der katholischen Kirche aus pastoraltheologischer Perspektive. Christine Schliesser sucht nach ökumenischen Ermutigungen auf den Spuren Dietrich Bonhoeffers. Abschließend resümieren die drei Herausgeberinnen entlang der vier Elemente der klassischen Beichte, die ökumenisch unstrittig sind, was bereits jetzt als ökumenischer Konsens gelten kann. Auf die Benennung strittiger Punkte verzichten sie hingegen bewusst.
Ein Autorenverzeichnis sowie Personen-und Sachregister (235–240) schließen den Band ab.
Die Bewertung des Bandes fällt relativ spannungsreich aus – gerade weil der Rezensent das leidenschaftliche Ringen und Mühen um eine systematisch-theologische wie praktisch-pastorale Erneuerung der Beichte mit den Herausgeberinnen teilt.
Formal fallen neben nicht ganz wenigen orthografischen Fehlern, einigen überzähligen, weil versehentlich nicht gelöschten Wörtern und einem Nummerierungsfehler (Sprung von 5.6 zu 5.8 im Beitrag von Herbst) v. a. die Ambivalenzen der beiden Register auf. Einerseits sind Register höchst verdienstvoll und zum gezielten Nachschlagen sehr hilfreich. Andererseits sind sämtliche Personen, die in den Fußnoten zitiert werden – und das sind die meisten! nicht ins Personenregister aufgenommen. Auch das Sachregister weist eine lückenhafte Erschließung auf: Kapitel 3.3 des Beitrags von Johann Pock widmet sich der Wallfahrt nach Medjugorje, ist aber im Register unter dem Sachwort »Wallfahrt« nicht zu finden. Artikel, die sich als ganze einem Sachwort widmen, sind nicht ins Sachregister aufgenommen, z. B. der Artikel von Zehner unter »Strafe« oder »Strafrecht«, der Artikel von Wüstenberg über die Confessio Augustana unter »Augsburger Bekenntnis« oder der Artikel von Prüller-Jagenteufel über die tridentinische Tradition unter »Konzil von Trient«.
Neben diese formalen Aspekte treten inhaltliche Ambivalenzen:
- Es ist großartig, dass sich eine beachtliche Zahl kompetenter Kolleginnen des Themas Beichte annimmt und eine Fülle höchst wertvoller Aspekte, Analysen und Argumentationen zusammenträgt. Zugleich bleibt teilweise offen, worin die genaue Zielsetzung des Bandes besteht. »Dieses Buch möchte daher zur Wiederentdeckung eines kostbaren Schatzes christlicher Praxis – evangelisch wie katholisch – beitragen«, schreiben die Herausgeberinnen. (11) Das ist eine sehr allgemeine und vage Zielsetzung. Fragen wir nach, an wen sich das Buch richtet, scheinen die Artikel unterschiedliche Zielgruppen vor Augen zu haben. Praktikerinnen profitieren vermutlich von den praxisnahen Artikeln von Wüstenberg (erster Beitrag), Glettler, Schaupp, Herbst, Pock und Schliesser (zweiter Beitrag). An sie wendet sich auch der Untertitel des Buchs: »Ökumenisches Kompendium für die Praxis«. Studierende der Theologie sind die Hauptprofiteure der beiden lehrbuchmäßigen und überblickshaften Beiträge von Zimmerling. Die forschende Community ist angesprochen durch die Herkunft der Beiträge aus einem Forschungskolloquium und profitiert vermutlich am meisten durch die Artikel von Zehner, Wüstenberg (zweiter und dritter Beitrag), Schliesser (erster Beitrag) und Prüller-Jagenteufel (beide Beiträge). Im Hintergrund einer nicht vollständig geklärten Zielsetzung und Zielgruppe steht die methodische Frage, wie sich praktische und systematische Theologie im Design des Buchs und seiner Forschungsfragen zueinander verhalten.
- •Ein starkes Qualitätsmerkmal des Bandes ist seine konsequent ökumenische Anlage. Alle Autorinnen arbeiten mit großem Gespür für die jeweils andere Konfession und deren theologische Optionen und zeigen, wie aus einem interkonfessionellen Streitthema erster Güte ein ökumenisches Brückenprojekt werden kann. Allerdings werden, etwa wo es um die klassisch strittige Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium geht, keine Ergebnisse der neueren Judaistik und der jüngeren Jesusforschung einbezogen. So läuft man Gefahr, ein veraltetes Bild vom Judentum zur Zeit Jesu und vom jüdischen Rabbi Jesus zu verfestigen. Ein Einbezug von Exegetinnen hätte dieser Gefahr vorbeugen können.
- Der Rezensent hat das Buch mit ungemein großem Gewinn gelesen. Denn es bietet eine Fülle an empirischem Material und höchst inspirierende Überlegungen aus dem ökumenischen Gespräch. Es zeigt sehr deutlich, dass gerade die Spezifika konfessioneller Theologien ein Schatz sein können, mit dem sich die jeweils andere Konfession beschenken lässt. Gemessen daran bleibt die Zusammenfassung des Forschungsertrags, die sich ausschließlich am dürren Konsens von vier klassischen Aspekten der Beichttheologie festmacht, hinter dem Potenzial zurück, das in diesem Band steckt. Mit exklusiver Konsensorientierung lässt sich nur der kleinste gemeinsame Nenner formulieren.
- Die Herausgeberinnen verzichten auf die Formulierung von Forschungsfragen für die künftige wissenschaftliche Arbeit. Davon ließen sich jedoch viele aus den Beiträgen herausarbeiten. Die meisten davon gruppieren sich m.E. um ein zentrales Thema: Wie verhalten sich die beiden Charaktere der Beichte als ekklesial-juridisches Geschehen und als pastoral-therapeutisches Geschehen zueinander? Unter diesem Obertitel, der das Spezifikum der Beichte gegenüber dem säkularen Recht einerseits und der psychotherapeutischen Praxis andererseits markiert, könnte man u. a. folgende Fragen stellen: Kann man nur »vergeben statt zu strafen" (Zehner, 65) oder kann man auch »vergeben durch strafen"? Was bedeutet es für die kirchenrechtliche Ausgestaltung der Beichte, wenn man die Erfahrungen der südafrikanischen Wahrheitskommission (Wüstenberg, 69–81) und der ruandischen Gacaca-Gerichte (Schliesser, 82–96) – beides juristische Institutionen – fruchtbar machen möchte? Gehört es nicht gerade zu den wesentlichen Einsichten dieser beiden Versöhnungsversuche, dass sie durch eine klare rechtliche Ausgestaltung überhaupt erst fähig werden, die geschädigten Opfer, deren Angehörige und die gesamte traumatisierte Gesellschaft mit in den Versöhnungsprozess hineinzunehmen? Gibt es in unseren klassischen Begrifflichkeiten eine Möglichkeit zur Unterscheidung von (immer freiwilliger) Buße und (immer von außen auferlegter) Strafe – und wenn ja, was trägt diese aus? Welche Relevanz hat es, dass die klassischen katholischen Handbücher für Beichtväter aus dem 17. bis 19. Jh., die Prüller-Jagenteufel in seinem Beitrag über die tridentinische Ära erstaunlicherweise übergeht, immer eine vierfache Rolle des Beichtvaters beschreiben – als Vater und Arzt, Lehrer und Richter? Ist es angesichts dessen sinnvoll, diese Rollen gegeneinander auszuspielen (Prüller-Jagenteufel, 169) und damit denselben Fehler zu machen wie die Neuscholastik, nur eben spiegelbildlich verkehrt? Der viel zitierte Karl Rahner macht ihn nicht – und z. B. eine öffentliche und förmliche Wiederzulassung Geschiedener zur Kommunion und gegebenenfalls sogar deren zweite kirchliche Heirat würden notwendig einen rechtlichen Akt voraussetzen. Zimmerling immerhin plädiert für eine Verbindung der juridischen und der therapeutischen Dimension (182). Schließlich stellen die Herausgeberinnen in ihrem Resümee die (m. E. richtige) These in den Raum, der oder die Beichthörende handle stellvertretend für den Sünder einerseits und für die Kirche und die Opfer andererseits (224–229). Man fragt sich allerdings, mit welchem Recht (!) ein Beichte hörender Mensch diese doppelte Stellvertretung wahrnehmen kann.
Das Buch enthält ungemein viele wertvolle Fakten und Gedanken. Wer sich wissenschaftlich mit dem Thema Beichte beschäftigt, muss es lesen. Aber bis sich die vielen Ideen so entwickelt und systematisiert haben, dass ein »Kompendium« im vollen Sinn des Wortes entsteht, braucht es wohl noch Zeit.
Michael Rosenberger