Rezension
Theologisches Gespräch 04/2015
»Natürlicher Tod und Ethik. Erkundungen im Anschluss an Jankélévitch, Kierkegaard und Scheler« ist die 2014 in der von Reiner Anselm und Ulrich Körtner herausgegebenen Reihe ›Edition Ethik‹ erschienene Buchfassung der 2012 von Johannes Fischer an der Universität Zürich angenommenen theologischen Dissertation von Christoph Reutlinger.
Mit dem etwa 150 Seiten starken, gut lesbaren Text möchte der Autor einen Blick hinter die konkreten Fragen rund um Sterbehilfe, Euthanasie und Patientenverfügung werfen und zu einem vertieften Verstehen ethischer Sachverhalte beitragen. Dabei wirbt er vielfach dafür, das Alltägliche, das Individuelle, das Subjektive, kurz: das Persönliche – im Gegenüber zum Allgemein-Objektiven und Rationalistischen einer normativen Urteilsbildung – als einen unhintergehbaren Standpunkt im Feld der Ethik einzunehmen. Bei den vielen Fragen, die sich einer angewandten Ethik durch die Entwicklungen der Medizin unausweichlich stellen, sei der größere Zusammenhang des existentiellen Fragens nach Tod und Sterben zu kurz gekommen.
Das Ziel der Arbeit soll in drei Schritten erreicht werden: Zunächst wird der natürliche Tod im Wandel der Zeit dargestellt, wobei auch theologische Beiträge in die Betrachtung einfließen. Dann geht es um die Bedeutung von Tod und Sterben aus einer das Subjektive bevorzugenden Sicht im Anschluss an den französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch (1903–1985) und Søren Kierkegaard (1813–1855). Schließlich formuliert der Autor in Kenntnisnahme der modernen medizinischen Möglichkeiten einen Gestaltungsimperativ für das Lebensende und überführt diesen zuletzt in einen allgemeinen Gedanken zur Ethik.
Das erste Kapitel nach der Einleitung befasst sich mit dem natürlichen Tod. In der Diskussion um 1970 herum wurde der natürliche Tod einem verfrühten oder gewaltvollen Tod entgegengesetzt und zwar als ein sozialutopisches und vom Fortschritt der Naturwissenschaften geprägtes Postulat, das für religiöse Vorstellungen freilich keinen Platz ließ. Damit erfuhr die Dominanz der Todesverdrängungsthese, die ihrerseits kritisch zu hinterfragen ist, eine kritische Beschränkung.
Der folgende Exkurs bietet in knappen Zitaten bedeutende Stimmen der protestantischen Theologie des vergangenen Jahrhunderts: Paul Althaus (Die letzten Dinge, 1922), Karl Barth (KD 111/2, 1948), Paul Tillich (Systematische Theologie 2, 1957), Wolfhart Pannenberg (Anthropologie, 1983) und natürlich Eberhard Jüngel (Tod, 1971): Mit ihnen soll der – wohl nicht sonderlich durchdachte Vorwurf vonseiten der Vertreter eines natürlichen Todes entkräftet werden, die Theologie verstehe den Tod bis in der 1960-er Jahre eher archaisch denn natürlich.
Anschließend werden ein paar einschlägige philosophische Positionen referiert, die kritisch zum Ideal des natürlichen Todes stehen: Jean Baudrillard (1929–2007), Ivan Illich (1926–2002), Johannes Schwartländer (1922–2011) und Alfons Auer (1915–2005). Damit deutet sich eine Verschiebung des Problems an: Nicht mehr der zu frühe, sondern der zu spät eintretende Tod gilt nun als Problem – und mit dieser Wendung ist der aktuelle Stand der Diskussion erreicht. Erstaunlicherweise beginnt die Darstellung der gegenwärtigen Diskussion mit einer katholischen, naturrechtlichen Position (obwohl schon im vorhergehenden Abschnitt resümiert worden war, dass das Konzept des natürlichen Todes an die vergangene Epoche der Metaphysik gebunden bleibe). Es schließt sich zwar eine Kritik an der Natürlichkeitsterminologie in der angewandten Ethik an (Dieter Birnbacher), diese wird aber, wenn auch genau, so doch ohne jede Reflexion ihres Hintergrundes in der Gegenwartsphilosophie vorgetragen und schließlich ohne weitere Diskussion zurückgewiesen.
Das Kapitel über den natürlichen Tod schließt mit dem Wunsch nach einem stärker alltagssprachlich und subjektiv ausgerichteten Reden in der heutigen Ethik.
Der zweite große Schritt soll zur subjektiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod führen und gelangt nach einigen – terminologisch wenig scharfen – Bemerkungen zu Bedeutung und Sinn des Todes und der Erwähnung der zuvor eingeführten Unterscheidung von natürlichem und künstlichem Alter (Max Scheler) zu den Positionen von Vladimir Jankélévitch und Søren Kierkegaard. Der französische Denker betont das quod, das Dass, das pure (natürliche?) factum des Todes und gewinnt damit eine positive Sicht auf die Tatsache, den Wert, ja die Schönheit des Lebens. In der anschließenden theologischen Betrachtung Jankélévitchs bleibt letztlich offen, ob christlich gesehen neben dem quod des Todes auch das quid (das Was und das Wie) von Belang sei: Eine Frage, die schon im Blick auf den Tod Jesu Christi eine differenzierte Antwort verdient hätte!
Vorn dänischen Philosophen Kierkegaard her wird noch einmal die herausragende Bedeutung von Individualität, Subjektivität und Existenz betont.
Mit dem dritten Schritt wird über die Einbeziehung der medizinischen Dimension (der natürliche Tod ist im klinischen Kontext als hergestellter und entscheidungsbedingter zu verstehen) und über den daraus zwingend folgenden Gestaltungsimperativ für das Lebensende schließlich die allgemeine Überlegung erreicht, dass für die Ethik eine subjektiv-bedeutungssensible Ebene gewonnen werden müsse und dass dann ein subjektiver Entscheid mit objektivem Anspruch zwar möglich, aber das Bild des einwandfrei ethisch korrekten Entscheidens aufgrund objektiver Kriterien zerstört sei. Jeder müsse am Ende selbst erkennen, was für ihn ein natürlicher Tod sei. (So nennt der Autor die vor Zeugen provozierte Erschießung Clint Eastwoods alias Walt Kowalskis in dem Film Gran Torino einen natürlichen Tod.)
Als Rezensent muss ich bekennen, dass mich die Arbeit von Christoph Reutlinger in einer gewissen Ratlosigkeit zurücklässt. Weite Teile sind ordentliche Referate zahlreicher meist klassischer Positionen (hätte auch der Philosoph Heidegger dazu gehört?). Der systematische Eigenbeitrag des Autors bleibt aber seltsam farblos: Haben wir nach der Lektüre, ja: hat der Autor selbst einen Begriff ›natürlicher Tod‹? Eine Unterscheidung von Tod und Sterben wird wohl angesprochen, sie bleibt aber ohne Folgen in der Arbeit. Der Begriff ›Natur‹ wird im Blick auf naturrechtliches Denken ebenso kritisch gesehen wie seine Zurückweisung durch die Kritik der Natürlichkeitsterminologie: Was bleibt davon? ›Natürlicher Tod‹ – immerhin Titel der Arbeit – steht bald mit, bald ohne Anführungszeichen: Geht es um einen Begriff bzw. ein Konzept oder um eine Sache? Dies bleibt allzu unscharf.
Auch nennt der Titel Jankélévitch, Kierkegaard und Scheler, während in der Einleitung von der Auseinandersetzung mit genau zwei Ansätzen die Rede ist, nämlich mit denen von Jankélévitch und Kierkegaard. Scheler spielt seine eigene Rolle – und keine sonderlich bedeutende in dem Gedankengang.
Und schließlich: Für die Folgerungen für die Ethik – immerhin Ziel der ganzen Unternehmung – bleiben am Ende eineinhalb Seiten mit eher vagen Andeutungen (»In der heutigen Ethik muss zuerst überhaupt sensibilisiert werden für die Wichtigkeit der Bedeutungsebene …«).
Meines Erachtens hätte es der Arbeit gut getan, wenn in der Kernthese (Bedeutung des existentiellen Hintergrundes für die ethischen Fragen) wie in dessen Durchführung der Autor selbst mit seinem eigenen Betrag kraftvoller in Erscheinung getreten wäre!
Dem Verlag ist – wie so oft – mitzuteilen, dass Lektorate Büchern gut tun: Ein paar schiefe Bilder (erst wirft eine Stimme ein Licht, gleich darauf ist eine Stimme ein wichtiges Standbein), ziemlich viele teils wörtliche Wiederholungen (vielfach am Ende und dann am Anfang von Gliederungseinheiten) und die genannten Unebenheiten im Ganzen (hat das im Titel Genannte genug Gewicht in der Arbeit?) hätten mit einem guten Lektorat vermieden werden können.
Christof Voigt