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Rezension

Lutherische Theologie und Kirche 32. Jahrgang (2008) Heft 1

Ein gebundenes Buch aus dem Bereich theologischer Fachliteratur (einschließlich ausführlichem Register!) zu einem vernünftigen Preis erstehen zu können – dazu noch mit erhellenden und weiterführenden Gedankengängen – ist heutzutage ein seltener Glücksfall. Um einen solchen Glücksfall handelt es sich beim vorliegenden Buch, das die Vorträge und Aussprachen zum Dies Academicus aus dem Jahr 2006 an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel dokumentiert.
Neben den Hauptreferaten (von Werner Klän, Jobst Schöne, Friedrich Hauschildt und Samuel H. Nafzger) haben darin ebenfalls kleinere Beitrage von Hansfrieder Hellenschmidt, Rainer Stahl, Robert Rosin, Detlev Graf van der Pahlen und Ernst Koch ihren Platz gefunden. Daneben lassen die Länderberichte aus England (Reginald Quirk), Frankreich (Jean Thiébaut Haessig), Skandinavien (Martti Vaahtoranta), Russland (Siegfried Springer), Lettland (Sandra Gintére), Tschechien (Marek Rican) und Polen (Janusz Jagucki) etwas von der Vielfalt der theologischen Positionen und der lebensweltlichen Herausforderungen europäischer lutherischer Kirchen im 21. Jahrhundert erkennen. Besonderer Erwähnung sind auch die dokumentierten (und von den Beteiligten autorisierten!) Aussprachen wert, die nun auch dem Leser manchen weiterführenden Gedankenanstoß vermitteln.
Die Hauptreferate stecken das Feld der Diskussion um Kirchengemeinschaft nach lutherischem Verständnis auf unterschiedliche Weise ab. Werner Klän bietet dem Leser als Schlüssel für den vorgestellten Fragekomplex eine Bekenntnishermeneutik, in der die Heilige Schrift und das lutherische Bekenntnis unauflöslich (bei Vorrangstellung der Heiligen Schrift) aufeinander bezogen bleiben. Daneben blickt er in einem geschichtlichen Abriss insbesondere auf die Positionen aus der Zeit der lutherischen Freikirchenbildung im 19. Jahrhundert, auf die Auseinandersetzung mit der Leuenberger Konkordie im 20. Jahrhundert und auf den ökumenischen Ort lutherischer Kirche heute.
Während Werner Klän bekannte Positionen noch einmal benennt, sie kurz und prägnant zusammenfasst und so zum Einstieg des Tagungsbandes eine Orientierung zu bisherigen Positionen des (bekenntniskirchlichen) Luthertums bietet, überrascht Jobst Schöne als Bischof emeritus der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) mit neuen Überlegungen und Weichenstellungen. Dabei würde man seinen Beitrag völlig falsch verstehen, wollte man ihn einseitig als Aufweichung der bisherigen Lehre und Praxis der SELK verstehen, dass Abendmahlsgemeinschaft erklärte Kirchengemeinschaft voraussetzt. Vielmehr ist dem Verfasser deutlich die Not abzuspüren, die er an verschiedenen Punkten mit einer allzu beliebigen Praxis seiner Kirche hat. Zugleich ist klar zu erkennen, dass er auch die Nöte der pastoralen Alltagspraxis im Blick hat: etwa das Dilemma, wie Laien aus lutherischen Landeskirchen zu begegnen ist, die im Raum einer unierten Landeskirche für eine bestimmte Zeit die Nähe zu einer Gemeinde der SELK suchen, oder das Problem, dass die Position der SELK in Sachen Kirchengemeinschaft nach außen kaum noch vermittelbar ist, weil das damit verbundene Denkmodell in anderen Kirchen kaum noch eine Rolle spielt und Gesprächspartner darauf nicht mehr ansprechbar sind. Auch die Frage, inwieweit sich die Frage von Abendmahlszulassung und Kirchengemeinschaft am Altar selbst durch Zulassung oder Zurückweisung lösen lässt, scheint auf. Bemerkenswert ist dabei nun, dass Schöne weder zu einer Abkehr von der bisherigen Zulassungspraxis aufruft, weil diese ohnehin nicht mehr haltbar sei, noch einfach zu mehr Disziplin mahnt, um die bisherigen Regelungen strikter umzusetzen. Sondern: »Man kann die Antworten nicht allein im Rückgriff auf die Tradition finden, denn es sind neue Herausforderungen, denen wir uns gegenüber sehen« (ebd.). So geht er aus von einer »graduell abgestufte[n] Zusammengehörigkeit« (ebd.) mit anderen Konfessionskirchen und unterscheidet entsprechend eine "partielle Abendmahlsgemeinschaft" (ebd.) von einer "volle[n] Abendmahlsgemeinschaft" (ebd.), die dann auch Interzelebration von Amtsträgern beinhalten würde. Dies würde eine Öffnung der Abendmahlsfeiern für Christen bedeuten, die die Zulassung zum Altarsakrament begehren – wobei bei den Abendmahlsfeiern von Schöne vorausgesetzt ist, dass im "gottesdienstlichen Umgan[g] mit dem Sakrament ... [das] unzweideutig[e] Bekenntnis zur Realpräsenz" (42) deutlich wird. Entsprechend wäre aus Schönes Sicht auch andersherum für Christen aus der SELK die Teilnahme an Abendmahlsfeiern außerhalb der eigenen Kirche und der mit ihr in Kirchengemeinschaft verbundenen Gemeinden möglich, wenn "erkennbar konfessionell-lutherische Lehre und Praxis herrschen und die Sakramentsfeier bestimmen« (44). Selbst der Dienst von landeskirchlichen Amtsträgern in Gemeinden der SELK schiene nicht mehr ausgeschlossen, "wenn deren konfessionelle Stellung eindeutig« (ebd.) ist. Ich halte Schönes Ausführungen gerade in ihrer Ehrlichkeit bei der Beurteilung der gegenwärtigen Situation und in ihrem gleichzeitigen Ringen um kirchliche Verantwortlichkeit für herausragend im vorliegenden Tagungsband. Diese Gedanken sind in dieser Offenheit längst überfällig und eine Diskussion darüber innerhalb der SELK (und darüber hinaus) notwendig und wünschenswert, um nicht stillschweigend und klammheimlich bestehende Lehre und Praxis immer weiter auseinanderklaffen zu lassen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass wir es hierbei tatsächlich mit einer Akzentverschiebung von der Inblicknahme kirchlicher Gemeinschaft als Ganzer hin zur Gemeinde vor Ort, ja hin zum Individuum zu tun haben. Und wer meint, hiermit wären alle Zulassungsprobleme gelöst, irrt sich. Der Wegfall einer allgemein verbindlichen Zulassungsregelung erhöht den Legitimationsdruck bei der Nichtzulassung im Einzelfall. Und es ist durchaus anzufragen, ob eine würdige Feier der Abendmahlsliturgie einschließlich eindeutiger Verkündigung für heutige Zeitgenossen so deutlich "lesbar« ist, dass sie dadurch in der Lage sind, eine "lutherische« Abendmahlsfeier von einer anders geprägten Abendmahlsfeier zu unterscheiden.
Verschiedene andere Beiträge in diesem Sammelband spiegeln bereits wider, dass sich eine Ablösung von einem Kirchengemeinschaftsdenken, in dem Kirchenkörper in einer verbindlichen Ausschließlichkeit Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft untereinander erklären und dies dann entsprechend auch für ihre Glieder positiv wie negativ gelten lassen, längst vollzogen hat. So kann Martti Vaahtoranta in aller Offenheit sagen: »In [der] finnischen Volkskirche bin ich getauft, konfirmiert und ordiniert worden und gehöre – jedoch als ein abwesendes Glied – nach wie vor dazu. Gleichzeitig bin ich seit vielen Jahren ein Glied der zur SELK gehörenden Christuskirchengemeinde in Wiesbaden. Ich bin also in zwei Kirchen zu Hause, die auf der Basis des gleichen Bekenntnisses stehen, aber keine offizielle Kirchengemeinschaft pflegen.« (150). Auch andere entsprechende Beispiele aus dem Tagungsband ließen sich anführen (etwa die Erklärung von Kirchengemeinschaft zwischen der Lutherischen Kirche-Missouri Synode und der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands, die auch in Kirchengemeinschaft mit der Anglikanischen Kirche und deutschen Landeskirchen steht), um die Unübersichtlichkeit in der Landschaft des weltweiten Luthertums anzudeuten. Es wäre von daher durchaus bereichernd für die Tagung und diesen Tagungsband gewesen, wenn ein Vertreter der hier recht unsachlich als »Extra-Lutheraner« (Gintére, 164) denunzierten Kirchen der Konfessionellen Evangelisch-Lutherischen Konferenz ein entsprechend engeres Konzept von lutherischer Identität in kirchlicher Verbindlichkeit vorgestellt und in die Diskussion eingebracht hätte. Eine entsprechende Einladung wurde aber offensichtlich leider ausgeschlagen (vgl. Klän, 9).
Für lutherische Kirchen, die ihre Identität (auch) von der Leuenberger Konkordie her definieren, stellt Friedrich Hauschildt, Präsident des Amts der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), in seinem dokumentierten Vortrag sein Verständnis von Kirchengemeinschaft dar. Grundlegend ist dabei für ihn: »Kirchengemeinschaft ist nur möglich, wenn wir im Glauben einig sind.« (52). Dabei unterscheidet er die Glaubenseinigkeit von der Lehreinigkeit und konstatiert: »In der Lehre geht es darum, wie Menschen sich das Widerfahrnis des Glaubens denkerisch zurecht gelegt haben« (ebd.). Und dann folgert er: »Meine Lehre hat nicht dieselbe Dignität wie mein Glaube; denn in meinem Glauben hat sich Gott selbst mir erschlossen, in meiner Lehre bin ich selbst am Werk« (ebd.). Entsprechend ist für ihn die Glaubenseinigkeit Voraussetzung für vollzogene Kirchengemeinschaft: »Der Konsens in der Lehre ist es nicht.« (52f – Hervorhebung im Original). So kommt Hauschildt zu seinem Modell abgestufter Gemeinschaft (Kirchengemeinschaft mit lehrmäßiger Übereinstimmung, Kirchengemeinschaft ohne lehrmäßige Übereinstimmung, Kirchengemeinschaft ist nicht moglich - vgl. 56). So ist für ihn etwa Kirchengemeinschaft mit reformierten Kirchen, mit denen Einheit im Glauben bestehe, möglich, mit Baptisten aber eben nicht, da hier offensichtlich nicht einmal ein Konsens im Glauben vorliege. Es ist positiv zu vermerken, dass Hauschildt seine Position sehr klar und deutlich formuliert hat und er auch die Position des bekenntnis-kirchlichen Luthertums in Gestalt der SELK sehr genau wahrgenommen hat. Gleichwohl bleibt für den Leser undeutlich, nach welchen Kriterien Glaubenseinigkeit dann attestiert bzw. negiert werden kann, wenn die Lehre als Reflexion über den Glauben immer als etwas sekundär Dazukommendes verstanden wird. Auch seine Versuche der Klärung greifen meinem Dafürhalten nach zu kurz: Es »ist im Hinblick auf die widersprechenden Lehren sicherlich zu unterscheiden zwischen solchen, die dem Kerngehalt des christlichen Glaubens kontradiktorisch widersprechen, solchen, die einem Missverständnis des christlichen Glaubens Vorschub leisten könnten, und solchen, die einer anderen Ausdrucks- oder Denkweise geschuldet sind« (60). Wenn Hauschildt mit Blick auf eine Formulierung zur Abendmahlseinladung aus dem Raum der SELK den Satz herausgreift »Das heilige Abendmahl ist auch Ausdruck von Glaubenseinigkeit« (ebd. - Fundort ebd; angegeben) und daraus auch für die Position der SELK schließt: »Die Einigkeit im Glauben reicht tiefer als die Einigkeit in der Lehre« (ebd.), dann scheint mir hier das Problem einer Äquivokation vorzuliegen: Während Hauschildt den Begriff »Glaubenseinigkeit« gerade im Unterschied zur Lehreinigkeit versteht, wird diese im bekenntniskirchlichen Luthertum und eben auch in der SELK gerade zusammengedacht. Auf diesem Wege scheint mir von daher keine fundamentale Annäherung möglich zu sein.
Wie eine Verständigung zwischen landeskirchlichem und bekenntniskirchlichem Luthertum gelingen konnte, scheint in zwei kleineren Beiträgen auf, die zu den Perlen des Bandes gehören: Detlev Grav von der Pahlen: Wilhelm Löhe – Impulsgeber für die Kirche heute, und: Ernst Koch: Die Aufgaben des Lutherischen Einigungswerkes am Beginn des 21. Jahrhunderts. Hier wird deutlich, dass es Schnittmengen zwischen beiden lutherischen Kirchenverbünden gab und gibt, die auch die Grundlagen für eine weiterführende Verständigung in der Zukunft legen könnten.
Christoph Barnbrock  

Rezensierter Titel:

Umschlagbild: Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit

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Lutherische Identität in kirchlicher Verbindlichkeit

Erwägungen zum Weg lutherischer Kirchen in Europa nach der Milleniumswende
Gintére, Sandra/Graf von der Pahlen, Detlev/Haessig, Jean Thiébaut/Hauschildt, Friedrich/Hellenschmidt, Hansfrieder/Jagucki, Janusz/Klän, Werner/Koch, Ernst/Nafzger, Samuel/Peters, Christian/Quirk, Reginald/Ríčan, Marek/Rosin, Robert/Salzmann, Jorg Christian/Schöne, Jobst/Springer, Siegfried/Stahl, Rainer/Vaahtoranta, Martti/Voigt, Hans-Jörg

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