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Rezension

Lutherische Theologie und Kirche, 38. Jahrgang (2014) Heft 3

Dieser Band erschien kurz nach dem überraschenden Rücktritt Benedikts XVI. von seinem Pontifikat. In der Beleuchtung verschiedener Facetten der Theologie Joseph Ratzingers durch evangelikale Theologen unterschiedlicher denominationeller Herkunft zeigt dieser Band freilich deutlich, wieweit christliche Theologie, die gemeinhin als eher am »linken Rand« der Reformation angesiedelt gesehen wird, Begegnungen mit zeitgenössischer römisch-katholischer Theologie vollziehen, Gemeinsamkeiten in dieser entdecken und beschreiben, aber auch bleibende Differenzen von dieser benennen kann. Insofern ist dieser Band ein Zeugnis für ökumenische Aufgeschlossenheit und Anschlussfähigkeit evangelikaler, bzw. in der Selbstetikettierung des Herausgebers: »schriftgebundener evangelischer« Positionen (14).
Er ist zugleich ein Signal für konfessionsübergreifende Koalitionen bestimmter kirchlicher Milieus. Auf diesen Sachverhalt weist der Herausgeber Christoph Raedel, Vorsitzender des Vereins für Freikirchenforschung e.V. und des Arbeitskreises für evangelikale Theologie, Professor für Ökumenische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel, demnächst an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen, in seiner Einleitung (7–19), nachdrücklich hin (9) und plädiert für eine »neue Koalition«, nicht zuletzt in ethischen Fragen, etwa beim Schutz des Lebens (15), aber auch in der zustimmend-programmatischen Aufnahme von Ratzingers Impuls, »christliche[n] Glaube[n] als Aufklärung der Moderne über sich selbst« zu deuten (15f.).
Der Band, eine Kooperation zwischen dem Brunnen-Verlag und der Edition Ruprecht, versammelt sieben Beiträge, die Aspekte aus dem theologischen Schaffen Joseph Ratzingers beleuchten, dazu eine Replik von Kurt Kardinal Koch (221–237), dem Vorsitzenden des Rats zur Förderung der Einheit der Christen, außerdem einen Epilog des Herausgebers (238–244).
Zwei Aufsätze befassen sich mit den Jesus-Büchern des Papstes.* Roland Deines, Professor für Neues Testament am Department of Theology and Religious Studies der Universität Nottingham (UK), analysiert umfänglich unter dem Obertitel »Der ›historische‹ und der ›wirkliche Jesus‹ [d]ie Herausforderung der Bibelwissenschaften durch Papst Benedikt XVI. und die dadurch hervorgerufenen Reaktionen« (20– 66). Deines findet, dass Ratzinger »sich auf einen echten Dialog mit der historisch-kritischen neutestamentlichen Forschung« einlässt (26), allerdings so, dass er dem »Universalanspruch der gegenwärtigen historisch-kritischen Methode« aus und mit methodologischen Gründen ihre Grenzen aufzuzeigen sucht (29); denn, so Deines: »Der historische Jesus und der Christus des Glaubens müssen zusammengehalten werden« (30f.). Eine »unkritische Anwendung der historisch-kritischen Methode« sei »problematisch für den christlichen Glauben« (32). Geschichte und Glauben seien freilich nicht voneinander ablösbar (36–42), so dass die historisch-kritische Methode nach Ratzinger andererseits »von der Struktur des christlichen Glaubens her unverzichtbar« ist (42). Deines wendet sich gegen Kritiker Ratzingers, bei denen er Jesus »nur als reale menschliche Gestalt« erfasst sieht, weil methodisch und methodologisch historische Forschung als »streng immanente[n]« alle »transempirischen Elemente« des Glaubens ausschließe (53). Für Deines liegt die Folgerung nahe, dass damit ein »atheistischer Geschichtsbegriff für ›natürlicher‹ erklärt [wird] als ein theistischer« (55). Zu Recht stellt er fest: »Ratzingers methodologische Erwägungen richten sich gegen diese Scheidung der historischen von der dogmatischen Wahrheit.“ (56). Und damit sei ein neuer »garstiger Graben«, der unterschiedliche »religiöse Kulturen« scheide (61). Unter Berufung auf Ratzingers Gespräch mit Jürgen Habermas plädiert Deines schließlich dafür, die faktische Nichtuniversalität der beiden großen Kulturen des Westens, der Kultur des christlichen Glaubens wie derjenigen der säkularen Rationalität, zu respektieren (65).
Rainer Riesner, Professor für Neues Testament am Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dortmund, begrüßt, in den Grundsatzfragen ähnlich orientiert wie Deines, wenn er bei manchen Forschern historisch-kritischer Couleur eine »ideologische Engführung« wahrnimmt (73), »dass Christen verschiedener Konfessionen sich im ernsthaften Hören auf die Heilige Schrift näher kommen können« (68). An Fallbeispielen (Letztes Abendmahl, Karfreitag, Gethsemane und Zweinaturenlehre, Wirklichkeit der Auferweckung Jesu, Geburt in Bethlehem, etc.) rezipiert Riesner weitgehend zustimmend die Einsichten Ratzingers, wenn er dafür plädiert, dass es sich, etwa in den »Kindheitserzählungen« zwar um gedeutete, aber eben doch »wirkliche, geschehene Geschichte« handele (87).
Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel, untersucht Ratzingers »Wahrheitsbegriff und Augustinus-Rezeption« (90–115). Sie nimmt sein Bemühen um »Plausibilisierung christlicher Wahrheit für den zeitgenössischen Menschen« ernst (91). Dabei erhebt sie, dass der vormalige Papst vom Kirchenvater die Verbindung von »Vernunft und Offenbarung« in Christus als dem Logos gelernt habe (95). Mit ihm verwahre er sich gegen eine Reduktion des christlichen Wahrheitsbegriffs auf einen rein empirischen Wahrheitsanspruch (98). Wahrheit als Erkenntnisweg führe auf die Gemeinschaft der Kirche hin (101). Augustinus gilt hier in jeder Hinsicht exemplarisch (101–110), bis hin zu, freilich ein wenig insinuierten »[b]iographischen Parallelen« (110–113). Kritische Distanz erfährt Ratzinger lediglich in der Ablehnung eines »Überhang[s] von Offenbarung über Schrift« im Sinn eines römisch-katholischen Traditionsbegriffs (114). Werner Neuer, Dozent für systematische Theologie am theologischen Seminar St. Chrischona und ständiger Gast im Schülerkreis von Joseph Ratzingers, befasst sich mit dessen »Zeugnis von der alleinigen Erlösung durch Jesus Christus« (116–137). »Das alleinige und endgültige Heil in Christus« versteht er »als Fundament und Mitte von Ratzingers Theologie der Religionen« (117–119); bei ihm sieht er » [d]ie Notwendigkeit der Heilsmittlerschaft der Kirche, der Heilsaneignung durch Glauben und der Mission« gleichermaßen gegeben (119–124). Fraglich ist freilich, ob Ratzinger wirklich »den Glauben als den alleinigen Akt des Heilsempfangen auf Seiten des Menschen beschreibt« (121), bzw. ob diese Beschreibung nicht in sich einen – allerdings auch von Neuer befürworteten, freilich nicht unproblematischen – Glaubensbegriff meint, nämlich: »dass wir die Hände aufmachen und uns beschenken lassen von seiner Huld« (121); noch diese Formulierung trägt m. E. synergistische Züge an sich, die dem »mere passive« Luthers und der Konkordienformel nicht gerecht werden. Dass Neuer Ratzingers Appell zur Mission unterstützt, sei hingegen angemessen gewichtet (122), ebenso die »Verneinung der nichtchristlichen Religionen als Heilswege« (126). Dass er gleichwohl eine »Heilsmöglichkeit für Nichtchristen« annimmt, die nicht mit dem Evangelium in Berührung kommen konnten, sei »mit einer biblisch-lutherischen Theologie« kompatibel (128). Auf diesem Hintergrund liefert Neuer abschließend eine Rechtfertigung des Dokuments »Dominus Jesus« aus dem Jahr 2000 (129–135); er hält die darin enthaltenen Eckpunkte der Theologie der Religionen, gerade in der christologischen Konzentration, für weitestgehend zustimmungsfähig (136).
Christoph Raedel, Professor für Ökumenische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel, befasst sich mit der »Begründung und Bewährung christlicher Ethik« bei Ratzinger (138–172). Er weist auf den naturrechtlichen Begründungsstrang der Ethik bei Ratzinger hin, verdichtet in der Phrase, dass »es eine innere Seinstendenz des gottebenbildlich geschaffenen Menschen auf das Gottgemäße hin gibt« (142). Raedel erhebet sodann eine doppelte Dialektik, die der Vernunft – zwischen moralischer und berechnender Vernunft (148) – und die der Freiheit – zwischen wahrer Freiheit und »Relativismus« (150). Gegenüber der von Ratzinger so genannten »Diktatur des Relativismus« in der Moderne gelte »die Überzeugung von der prinzipiellen Zugänglichkeit der obersten Prinzipien des menschlich Gutseins«. Die Gottesoffenbarung in Christus und die Kirche als »Raum der Wahrheit und der Liebe« weisen nun darauf, dass „die Abhängigkeit des Menschen von Gott« zugleich Bedingung seiner »Freiheit für Gott« sei (162). Die faktische Kluft zwischen Sollen und Können des Menschen ist dann erlösungstheologisch vermittelt (166). Raedel hält das Postulat eines »Grundbestand[s] an Menschlichkeit« und von »Dimensionen des Gutseins« für grundsätzlich anschlussfähig, macht aber zugleich darauf aufmerksam, dass im Horizont evangelischer Ethik der feststellbare Freiheitsverlust erst »in der expliziten Verbindung zur Sündenlehre« plausibel werde (167). Hier ist der Wertung zuzufallen, dass die Sündenlehre Ratzingers eher defizitär ist (168; 170); aus lutherischer Sicht müsste m. E. sogar eine Fundamentaldifferenz bezüglich der Erbsündenlehre und Anthropologie festgestellt werden; hier geht es um noch ganz andere Dimensionen als um die »Überbrückung des unendlichen Abstands zwischen Schöpfer und Geschöpf« (170). Zustimmungsfähig ist gewiss die Position Raedels, Ethik als »Ort der Bewährung des christlichen Glaubens« zu bestimmen, nicht zuletzt im »gemeinsame[n] Zeugnis der christlichen Kirchen« (169), besonders wenn solche Gemeinsamkeit getragen wäre von einer Absage an jede Art von »Pathologie des Glaubens«, etwa durch gewaltsame Ausbreitung von Wahrheitsansprüchen (171).
»Eine Würdigung Benedikt XVI. aus pfingstkirchlicher Sicht« (173–190) versucht Cheryl Bridget Johns, Professorin für Discipleship and Christian Formation am Church of God Theological Seminary in Cleveland/TN. Trotz teils »prekärer« Beziehungen zwischen beiden Kirchentypen (173) findet sie in Benedikt XVI. Enzyklika »Deus Caritas Est« die Stränge der »Liebe zu Christus, die Liebe zur Kirche Jesu Christi und die Liebe zur Wahrheit des Evangeliums« miteinander verwoben (174). Angesicht einer »Pentekostalisierung« des Katholizismus, etwa in Afrika sieht sie die Weitergabe des Glaubens »in einem Zeitalter des Unglaubens« als gemeinsame Herausforderung für Pfingstler und römische Katholiken (175). Differenzen notiert sie im Gegenüber zu einem von Bendeikt XVI. postulierten »Primat des Empfangens« (180), der sie als pfingstlerische Position die »Vorstellung« entgegenhält, dass eine pneumatologisch begründete Bevollmächtigung »die Menschen zu Subjekten macht, die sowohl gestalten als auch empfangen« (180), durchaus mit, freilich pneumatologisch-eschatologisch konnotierten, befreiungstheologischen Implikationen. Diese reklamiert sie für die »Erfolge« der Pfingstkirchen (183), nicht zuletzt bei Frauen in den lateinamerikanischen Ländern, die die Geistbegabung als Ermächtigung erfahren, die sie aus der römisch-katholischen Kirche ausziehen lässt (184). Selbstkritisch weiß sie aber auch eine pentekostale »Kultur des Narzissmus« und der »Hyperindividualismus« zu benennen, gegen die sie offenbar Gegenmittel von einem eher ekklesialen Denken erwartet (185). Schrifttheologisch sieht auch sie eine größere Nähe zwischen Pfingstlern und Benedikt als zu den »meisten Protestanten« (189).
Geoffrey Wainwright schließlich, Professor em. für Systematische Theologie an der Divinity School der Duke University in Durham/NC deutet »[d]ie Liturgie als performatives Wahrheitszeugnis« im Sinn einer »Heilung vom Relativismus« (191–220). Er fällt dabei kulturkritischen bis kulturpessimistischen Einlassungen Ratzingers zu, wenn er »Absurdität in der Kunst« (193), »Chaos in der Musik« (195) – letzteres identifiziert mit der »Rockmusik« – im Sinn einer »anarchischen« Theorie und Praxis in der Kunst brandmarkt (197). Dem wird dem christlichen Gottesdienst seine »kosmische, historische und eschatologische Dimension« (198) alternativ gegenübergestellt: dort verwendete, traditionelle Symbolik(en) und sakramentale Zeichen werden modernen Ausdrucksformen entgegengesetzt, etwa »frei komponierende[r) Dichtung und Musik« und dem »Tanz« (218f.). Es scheint, als ob hier eher ästhetische denn wahrhaft theologische Urteile leitend seien.
Kurt Kardinal Koch liefert eine »Replik« aus römisch-katholischer Sicht (221–237). Der jetzige Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen bestimmt » [c]hristliche Theologie als Suche nach der Wahrheit« (223–226), die er allerdings wort- und offenbarungstheologisch verankert (226f.). Glaube und Theologie sieht er dabei aufeinander bezogen, wie auch Heilige Schrift, Glaube/Theologie und Kirche, letztere als »Lebensraum der Offenbarungswahrheit« (229– 232). Dabei beschreibt Kardinal Koch Kirche und Lehramt als »immer wieder zum Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes« verpflichtet (232). Von solchen theologischen Elementarwahrheiten könnten Brücken geschlagen werden zum großen »Wir glauben, lehren und bekennen« des lutherischen Bekenntnisses. Denn in der Tat ist die Wahrheitsfrage aufgeworfen, ist die Christenheit zur Bezeugung der einen Wahrheit, die Person ist, gerufen, und das nicht zuletzt in ökumenischer Hinsicht (237).
Konfessionelle lutherische Theologie und Kirche müsste manche anderen Akzente einbringen in ein solches gemeinchristliches Gespräch über die Wahrheit kirchlichen Glaubens. Schrifttheologisch und hermeneutisch darf sie sich die fundamentaltheologische Differenzierung zwischen Gottes Reden und Handeln in Gesetz und Evangelium nicht abmarkten lassen, ekklesiologisch und sakramentstheologisch wird sie den Primat des Wortes Gottes unangetastet lassen, erlösungstheologisch die Alleinwirksamkeit Gottes in Jesus Christus kraft des Heiligen Geistes zu betonen haben. Dass aber gerade lutherische Theologie und Kirche einen wesentlichen Beitrag zum Gespräch über die Wahrheit des Glaubens im ökumenischen Kontext schuldig sind und leisten können – und dies weit über die heute virulenten Fragen aus dem Bereich der Gender-Thematik und der ethischen Problemkreise hinaus, auf die manche Koalitionen sich allzu schnell verständigen wollen – daran sollte kein Zweifel sein.
Werner Klän

*Joseph Ratzinger – Benedikt XVI., Jesus von Nazareth – Band 1: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Herder, 2007; Jesus von Nazareth – Band 2: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Herder, 2011; Jesus von Nazareth. Prolog – Die Kindheitsgeschichten, Freiburg im Breisgau, Basel, Wien 2012.

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Christuszeugnis und Relativismuskritik bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. aus evangelischer Sicht
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