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Rezension

Quatember, 87. Jahrgang, Heft 1/2023

»Wenn man [...] die Frage beantworten will, wann, wie und über wen der deutsche Protestantismus in der ›Demokratie angekommen‹ ist, dann kommt man an dem Namen und den Arbeiten Wendlands nicht vorbei.« So heißt es gleich im Vorwort der von Katja Bruhns und Stefan Dietzel vorgelegten Forschungsarbeit. Ein Beitrag vor allem zur Gesellschafts- und Ideengeschichte, naheliegend auch zur Kirchengeschichte also?
Akribie und fußnotenträchtige Ausarbeitung lassen dies durchaus vermuten, noch dazu, wenn man sich den ersten Hauptteil, »Biographische Grundlinien« betitelt, näher anschaut.
Stefan Dietzel geht es dabei am wenigsten um eine bloße Lebensbeschreibung. Vielmehr wird die simple Tatsache, dass Wendland im Jahre 1900 geboren wurde, sogleich zu einer Betrachtung über Möglichkeiten und Grenzen einer Epochenabgrenzung genutzt. Wo – und vor allem: in welchen familiären Bezügen – der spätere Neutestamentler und Sozialethiker geboren wurde, erfahren wir erst gut zehn Seiten später. Aber auch hier wird klar: »Evangelischer Pastorenkonservativismus« steht im Vordergrund, wenn auch am Beispiel der Familie Heinz Dietrich Wendlands. Überhaupt wird der Werdegang des Berliner Pastorensohnes nur dann kleinschnittig beschrieben, wenn anhand dessen die, nennen wir sie einmal so, »geisteswissenschaftlichen Netzwerke« der Entwicklungslinien und Abgründe beleuchtet werden sollen.
Der Focus liegt hierbei schon vom Umfang her eindeutig auf »Zwischenkriegszeit« und Zweitem Weltkrieg. Schließlich soll die »Lerngeschichte Wendlands« nachgezeichnet werden »und damit die Stärken und Schwächen eines wandlungsfähigen Konservatismus im 20. Jahrhundert.« Der »Mensch Heinz Dietrich Wendland« bleibt also ganz im Hintergrund. Es geht noch nicht einmal um eine Werkbiographie. Selbst psychologische Überlegungen stehen im Kontext einer, um mit Karl Jaspers einen älteren Zeitgenossen Wendlands zu bemühen, »Psychologie der Weltanschauungen«.
Aber: Eine Skizze des Privatmannes Wendland wird die Leserin auch nicht automatisch vermissen: Der zu seinem 70. Geburtstag als »Nestor der deutschen Sozialethik« gefeierte erste Direktor des Sozialethischen Instituts an der Universität Münster ist nahezu unbekannt. »Heute« meint dabei leider nicht erst »seit gestern«, sondern schon länger. So hielt es schon 1992 die Evangelische Michaelsbruderschaft nicht für nötig, anlässlich seines Todes dem Mitverfasser des »Berneuchener Buches« und erstem theologischen Sekretär der Bruderschaft ein eigenes »In memoriam«-Heft des Rundbriefes zu widmen. Immerhin schrieb Bruder Moes einen ebenso empathisch wie pointiert formulierten Nachruf, der Wendland nach 59-jähriger Zugehörigkeit würdig in die Schar der heimgegangenen Brüder einreiht.
Moes lässt dabei nicht unerwähnt, dass der langjährige Inhaber des Lehrstuhls für »Christliche Gesellschaftswissenschaften« an der Universität Münster nicht nur »am Leben der Bruderschaft mitarbeitend und gestaltend teilgenommen« und bei den »großen Michaelsfesten 1956 und 1961 in Marburg [...] einen der Hauptvorträge gehalten«, sondern »uns [...] mit der ihm eigenen Leidenschaft den Spiegel vorgehalten« hat, so etwa »in dem Kapitel mit der bezeichnenden Überschrift ›Siegt der Konservatismus?‹« seiner Autobiographie »Wege und Umwege«.
Die Lektüre des Nachrufes von Bruder Moes irritiert dann allerdings denjenigen, der im Nachwort der hier besprochenen Arbeit zur Kenntnis nehmen muss, dass die angebliche »liturgische Liebelei mit der Michaelsbruderschaft ebenso wie seine Offenheit für das Gespräch mit katholischen Sozialethikern oder die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Soziologen, Politologen und Wirtschaftswissenschaftlern« zu der Liste »mancher irritierender Elemente« gehöre, die (leider?!) dazugehören, auch wenn Autor und Autorin es schlussendlich für »angemessen« halten, Wendland »seinen ganz eigenen Platz im protestantischen Spektrum einzuräumen«.
Nun mag man jungen Forscherinnen einen gewissen akademischen Größenwahn gerne verzeihen. Trotzdem irritiert das Nachwort der ansonsten zwar in ihrer akribischen Umfänglichkeit herausfordernden aber doch immer lesenswerten Arbeit genauso wie der vorhin schon erwähnte quantitative Schwerpunkt des ersten Hauptteils.
Der geneigte Leser (wie auch die geneigte Leserin, die erfreut zur Kenntnis nehmen darf, dass der »konservative Lutheraner« zu den Vorkämpfern der uneingeschränkten Frauenordination gehörte!) fragt sich hoffentlich zwangsläufig, ob das Paradigma des. »wandlungsfähigen Konservatismus« letztlich nicht zu eng geführt ist. Gerade weil der zweite Hauptabschnitt unter der »großen und vieldeutigen Überschrift des Konservatismus« , hätte eine Diskussion des Begriffes als solchem vielleicht den Horizont erweitert.
So retten, pointiert gesagt, die Abschnitte »Kirche und Gesellschaft bis Mitte der 1930er Jahre« und »Theologie in der Bundes¬republik« das ambitionierte Werk für die Leser, die vornehmlich nach einem möglichen Ertrag für die Gestaltung von Kirche und Gesellschaft heute und in Zukunft fragen. Man wird geradezu eingeladen, etwa Wendlands »Grundzüge der evangelischen Sozialethik« wieder aus dem Archiv zu holen, nicht zuletzt auch, um den Ordnungsruf des von der neutestamentlichen Eschatologie her argumentierenden Überwinders früherer apodiktischer Ordnungsvorstellungen angesichts der derzeitigen Argumentationskultur im Bereich der EKD zu hören: Wendland lädt ein auf der Hut zu bleiben vor allen Versuchen, bestimmten Themen ein geradezu axiomatisches Vorrecht zu geben. In Deutung Wendlands: Wer »last generation« ist, bestimmt der Herr, nicht irgendeine Synode.
Die von Wendland in den 50er und 60er Jahren immer häufiger rezipierten Begriffe »Partnerschaft« und »Verantwortung« im Blick auf Kirche und Gesellschaft haben hoffentlich ihre orientierende Bedeutung nicht verloren – auch nicht für die »christliche Dienstgruppe«, zu der er auch die Evangelische Michaelsbruderschaft zählt, denn damit »verbinde ich das Prinzip des christlichen Zusammenschlusses, der christlichen Vereinigung, mit dem Prinzip der Offenheit. [...] Das Prinzip der Offenheit und des Dialogs mit allen Gruppen und Menschen der modernen Gesellschaft haben wir mit dem Prinzip der handelnden Gemeinde zu verbinden.«
Geradezu tagesaktuell ein letztes Zitat, gleichsam als Anregung, mit Wendland die Sozialethik nicht in Vergessenheit geraten zu lassen: »In dem weltgeschichtlichen Kampfe um die Bewahrung und Gründung der Freiheit des Menschen dürfte es unsere Aufgabe sein, die sozialen und politischen Freiheiten als Feld der Bewährung und der Ausübung der christlichen Freiheit zu verstehen.«
Axel Mersmann

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Umschlagbild: Heinz-Dietrich Wendland (1900–1992)

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Politisch-apologetische Theologie
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