Rezension
Theologische Revue 03/2022
Wie von vielen Zeitgenossen wurde der Erste Weltkrieg auch von Hermann Otto Sasse als ein grundstürzender Epochenbruch wahrgenommen. Wusste er sich zu Beginn seines Berliner Studiums der Ev. Theol. noch liberaltheol. Strömungen wie der Religionsgeschichtlichen Schule oder einem Kulturprotestantismus im Stile von Ernst Troeltsch verbunden, so entwickelte er sich unter dem Eindruck der Kriegsereignisse vergleichbar mit Karl Barth oder mit Paul Tillich zum Vertreter einer Theologie der Krise. Zu einer Art von Erweckungserlebnis wurde für ihn die Lektüre von Lutherschriften im Reformationsjahr 1917. Nach Jahren im Pfarramt und intensivem Engagement in der internationalen Ökumene wurde Sasse 1933 Extraordinarius an der Univ. Erlangen, wo Werner Elert und Paul Althaus lehrten. Seine Gegnerschaft gegen die kirchliche Gruppierung der sog. Deutschen Christen und seine entschiedene Parteinahme für die Bekennende Kirche führte zu erheblichen Spannungen innerhalb der Fak. Aber auch im Lager der Bekennenden Kirche kam es zu Konflikten, wie sich an Sasses Verhältnis zur Barmer Theologischen Erklärung exemplarisch erheben lässt. Er befürchtete unionistische Tendenzen und eine Einebnung der gnesiolutherischen Positionen namentlich in der Abendmahlsfrage zu Gunsten der reformiert-unierten Tradition. Als die Ev. Kirche in Deutschland drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde und ihr u. a. die Ev.-Luth. Kirche in Bayern offiziell beitrat, wechselte Sasse, der im Herbst 1945 den kirchengeschichtlichen Lehrstuhl des wegen seiner Haltung zum Nationalsozialismus entlassenen Hans Preuß übernommen hatte, zur altlutherischen Kirche, die heute in der Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) fortlebt; diese vergibt seit 1996 einen Hermann-Sasse-Preis. 1949 wurde Sasse von der Luth. Kirche Australiens an das Immanuel Seminary in Adelaide berufen, wo er bis zu seinem Lebensende wirkte.
Genauere Aufschlüsse zu Biographie und Werkgeschichte Sasses gibt neben dem einschlägigen Artikel von Peter Noss (in: BBKL 8 (1995), 1380−1399) der anzuzeigende Sammelbd., der aus Anlass des 125. Jahrestages der Geburt Sasses zustande kam und eine vorläufige Zwischenbilanz bezüglich seines theologischen und kirchlichen Erbes zu geben sucht. (Besonders hervorzuheben ist das von S. Volkmar verantwortete Literaturverzeichnis, das »u. a. erstmals die Einzelschriften von Hermann Sasse zusammenstellt« [8].) Schwerpunkte der Untersuchung sind die Anfänge der akademischen Laufbahn Sasses, seine Entdeckung des kirchlichen Bekenntnisses, sein Bibelverständnis im Zuge der Krise des Schriftprinzips, welche die historisch-kritische Methode bereitet hat, seine Konfessionshermeneutik, seine theologische Gegenwartsdeutung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, seine Stellung innerhalb der Erlanger Fak. und im Kirchenkampf, sein Einfluss auf das internationale Luthertum nach 1945 sowie seine Ekklesiologie und Amtstheologie im Horizont der Ökumene. Was Sasse zu sagen habe, schreibt der Hg. in seinem Vorwort, sei von tiefer Bedeutung »nicht nur für die Kirche Augsburgischer Konfession, die das Konkordienbuch von 1580 als ihre Bekenntnisgrundlage festhält, sondern für die Una Sancta, gemäß Sasses Dictum: ›Bekenntnistreue und echte Ökumenizität gehören zusammen. ‹« (9 unter Verweis auf H. Sasse, Geleitwort, in: Ders., In statu confessionis. Bd. 1., hg. v. F. W. Hopf, Berlin u. a. 1975, 7−10, hier: 10)
Wie man sich diese Zusammengehörigkeit nach seinem und Sasses Urteil zu denken hat, sucht W. Klän, ein. Prof. für Systematische Theol. an der Lutherischen Hochschule Oberursel und einer der kundigsten Repräsentanten der SELKD, in Erwägungen zu Kirche, kirchlichem Dienstamt und Ökumene zu verdeutlichen. Der gehaltvolle Artikel ist systematisch konzise und kann als Korrektur eines innerhalb der VELKD seit geraumer Zeit wirksamen theologischen Trends gelesen werden; er zeigt aber zugleich das Dilemma, in das kirchliche Gemeinschaften vorn Typus der SELKD mehr oder minder zwangsläufig geraten. Ihrem durch Eindeutigkeit und Entschiedenheit charakterisierten Identifikationspotential korrespondiert ein Hang zum Exklusivismus und eine im Vergleich zu den sogenannten Volkskirchen beschränkte Integrationskraft. Sasses Lehrer Troeltsch hat das Problem in seinem Werk über Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen von 1912 treffend beschrieben. Ein aktuelles Lehrstück in dieser Hinsicht bietet beispielsweise das Interview, das K. im Anschluss an ein Gutachten der SELKD zum Votum des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen Gemeinsam am Tisch des Herrn unter dein Titel Schwebende Formeln der Zeitschrift Die Tagespost (16.07.20, 12) gegeben hat. Die Antworten könnten von Sasse stammen.
Gunther Wenz