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Rezension

Jahrbuch für Freikirchenforschung (30) 2021

1972 fusionierten drei territorial selbständige evangelisch-lutherische Kirchen in Deutschland zur Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK). 2022 sieht dieser bundesweite Kirchenkörper seinem 50-jährigen Bestehen entgegen. Volker Stolle, 1978 bis 1984 Direktor der Mission Evangelisch-Lutherischer Freikirchen, heute: Lutherische Kirchenmission (Bleckmar), und 1984 bis 2005 Professor für Neues Testament und Mission an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel, legt im Vorgriff auf dieses Jubiläum ein Buch zur geschichtlichen Selbstverständigung seiner Kirche vor. Sie ruht für ihn auf dem reformatorischen Ansatz Luthers zur Buße. Dies öffnet ihm Raum für eine selbstkritische Reflexion des in Kapitel 8 seines Buches thematisierten Profils seiner Kirche.
Auf ihren Wegen zur SELK wurden die Geschichten der selbstständigen evangelisch-lutherischen Kirchen bisher vornehmlich unter dem Blickwinkel ihrer Bemühungen um den Erhalt ihrer konfessionellen Selbständigkeit erzählt. Der Autor hingegen stellt in der Einleitung (12−20) eine religionssoziologischer Perspektive vor. Er zeichnet Wege nach, auf denen lutherische Kirchenkörper aus dem langsamen Zerfall feudal-ständischer Gesellschaftsordnung im Deutschland der nachnapoleonischen Zeit des 19. Jahrhunderts hervorwuchsen, ihre konfessionelle Selbständigkeit zu gewinnen und dann in einer völkisch-nationalen wie in einer demokratischen Gesellschaftsordnung des 20. Jahrhunderts zu erhalten suchen.
In einer kurzen geschichtlichen Hinführung (21−43) erinnert der Autor daran, wie die christliche Gemeinde des Neuen Testamentes in die soziokulturellen Gegebenheiten des Konstantinischen Zeitalters und später der Kirche des Westens einwurzelte. Er sieht Luthers Versuch, die ständische Gesellschaftsordnung seiner Zeit biblisch zu begründen, als gescheitert an, ein Menetekel für das spätere Theologumenon der »Schöpfungsordnungen«. Er endet dieses Kapitel mit dem Reichsdeputationshauptschluss der Reichsversammlung und der Niederlegung der Kaiserkrone durch den Habsburger Franz II. 1803. Damit, dass territoriale Verhältnisse in Deutschland durch den Wiener Kongress neu geordnet wurden, verloren die evangelischen Landeskirchen alten Zuschnitts ihre konfessionelle Geschlossenheit. Die konfessionelle Frage wurde Teil der politische Neuordnung Deutschlands. Die territorialen Wege selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen begannen. Sie in die ökumenische Weite seit dem Beginn des Christentums und nicht allein in die nachnapoleonische Nationalgeschichte Deutschlands skizzenhaft eingestellt zu haben, ist ein Verdienst der Studie V. Stolles.
Angesichts dieses Neuordnungsprozesses erzählt der Autor mit profunder Detailkenntnis von den Wegen selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen »im Zeichen der Restaurationspolitik« mit Schwerpunkt im Königreich Preußen (43−127), »im neuen Deutschen Reich« (128−226), »In der Weimarer Republik« (227−254), »In der Zeit des Nationalsozialismus« (255−277) und »Nach dem Zweiten Weltkrieg« (278−362). Auf der Seite der lutherischen Landeskirchen fand jetzt ihre föderative Vereinigung zur »Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche in Deutschland« (VELKD) statt. Sie inkorporierte sich 1948 der Rechtsnachfolgerin der Deutschen Evangelischen Kirche von 1933 (DEK), der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Dieser Eintritt der VELKD in die EKD als Bund konfessionsverschiedener, reformierter, unierter und lutherischer Landeskirchen vollzog sich unter dem Eindruck der Erfahrungen der Bekennenden Kirche und ihrer Theologischen Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche von 1934. Mit dieser Barmer Theologischen Erklärung hatten die »intakten« lutherischen Landeskirchen sowie die Bekennende Kirche in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union und anderen Landeskirchen ihren Kirchenkampf um Kirche und Bekenntnisgeltung in der nationalen Einheitskirche des Dritten Reiches, der DEK ausgefochten.
Auf der Seite selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland schritt der schon zur Kaiserzeit begonnene Vereinigungsprozess im Nachkriegsdeutschland weiter voran und führte 1972 zur Gründung der SELK. Damit bündelten sie ihre Erfahrungen der Kirchenkämpfe ihrer Entstehungszeiten nach 1817 wie nach 1866 und suchten daran festzuhalten. Beide Zweige im Luthertum Deutschlands stehen heute ohne Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft vor der Frage nach der konstitutiven und rechtsverbindlichen Bedeutung reformatorischer Bekenntnisse für die Wege ihrer Kirchenkörper VELKD und SELK in heutiger Zeit. Sie stehen gemeinsam vor der Tatsache schwindender Kirchenbindung, abnehmender Kirchgliederzahlen, vor dem Bedeutungsverlust von Wort und Sakrament als Kirche bildendes Profil nach CA VII.
Im vorletzten Kapitel seines Buches (»Das eigene Anforderungsprofil in seiner Umsetzung«, 365−422) richtet Stolle seinen Blick zunehmend auf die Verarbeitung thematischer Komplexe in der gegenwärtigen SELK, ihre ökumenische Verortung (365-380), ihre Organisationsgestalt als Kirche (381−392) und ihren Soll-Anspruch, »alles auf biblischer Grundlage zu entscheiden« (393−422). Der langjährige Oberurseler Exeget benennt hier als Themenfelder zwischen »Soll« und »Ist« im Selbstverständnis der SELK: »Schriftlehre«, »kirchliches Amt«, »Kirchen- und Abendmahlsgemeinschaft« und »Stellung der Frau in Kirche und Gemeinde« und mahnt weitere theologische Klärung an. Dabei fällt trotz aller soziokulturellen und konfessionellen Unterschiede zwischen lutherischer und römisch-katholischer Kirche auf, dass die von Stolle erhobenen Themenfelder Ähnlichkeiten mit den Themenfeldern »Macht, Partizipation, Gewaltenteilung«, »priesterliche Lebensform«, »Sexualmoral« und »Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche« des Synodalen Weges aufweisen, auf dem die katholische Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der Katholiken in Deutschland gegenwärtiges Krisengeschehen in ihrer Kirche aufzuarbeiten suchen.
Das Schlusskapitel 9 (»Resümee«, 423−427) unterstreicht noch einmal die Sicht des Autors auf »Lutherische Kirche im gesellschaftlichen Kontext« (423−426) und »Lutherische Kirche im gesamtchristlichen Kontext« (426−429). Mit der Betonung der ökumenischen Weite lutherischer Kirche wie ihrer struktur- und soziokulturellen Deutung hat Stolle den Weg internationaler Kirchengeschichtsschreibung seit den beginnenden achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschritten und in die Erzählungen der Entstehungsgeschichten selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland eingetragen, ein erheblicher Fortschritt für ihre Selbstverständigung. Für Leser, die der SELK und ihrem geschichtlichen Woher und Wohin nicht fernstehen, bietet dieses Buch eine spannende Lektüre offenstehender wie verdeckter Entwicklungslinien. Die etwa 40 Literaturangaben zum Buchthema aus dem Schrifttum des Autors selbst signalisieren seine Verbundenheit mit den Wegen seiner Kirche und geben diesem Alterswerk eine testamentarische Note. Der von ihm verantwortete Drucksatz weist wenige Druckfehler auf, der Rezensent nennt nur den einen: Käthe Pistorius (1911−1991) war von 1948 − nicht 1848 (312) − Kirchenmusikwartin ihrer Kirche bis zu ihrem Ruhestand 1976. Die profunde Detailkenntnis des Autors führt allerdings einen Leser, der, angeregt durch den weitgespannten Titel zu diesem Buch greift, passagenweise zur Lesegeduld.
Unbestritten bleibt: Stolle legt eine erste Gesamtdarstellung der Entstehungen selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen im soziokulturellen Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts jenseits der Wege territorialer lutherischer Landeskirchen vor. Er zeichnet ein selbstkritisches Profil ihrer Wege bis zu ihrer Fusion zur SELK 1972 und darüber hinaus bis in die Gegenwart. Das Buch nimmt noch Literatur mit Entstehungsdatum bis 2018 zur Kenntnis.
Fazit: Für die SELK ist es ein unverzichtbarer Beitrag für ihre Selbstverständigung auf ihrem Weg zum Jubiläum des ersten Halbjahrhunderts ihres Bestehens. Das Luthertum insgesamt erinnert es an kaum gespurte Pfade zu kirchlicher Selbstständigkeit. Rudolf Rocholl (1822−1905) nennt sie mit dem Titel seiner Autobiographie »Einsame Wege«.
Peter Lochmann

Rezensierter Titel:

Umschlagbild: Lutherische Kirche im gesellschaftlichen Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts

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Lutherische Kirche im gesellschaftlichen Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts

Aus der Geschichte selbstständiger evangelisch-lutherischer Kirchen in Deutschland
Stolle, Volker

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