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Rezension

Theologische Revue 04/2015

Auf der Grundlage des dreibändigen Jesus-Buches von Joseph Ratzinger bzw. von Benedikt XVI. und des von ihm ausgerufenen Jahres des Glaubens sehen die vornehmlich aus dem freikirchlich-evangelikalen Spektrum kommenden evangelischen Vf. des vorliegenden Bandes die Bestätigung für eine »neue Koalition« zwischen römisch-katholischer Kirche und evangelikal geprägtem Protestantismus (9). Der Hg. des Bandes, der Systematiker Christoph Raedel von der Freien Theol. Hochschule Gießen, sieht angesichts der von Ratzinger diagnostizierten Herausforderung der Kirche durch die postchristliche, pluralistische Gesellschaft mit ihrer relativistischen Grundhaltung die gemeinsame Aufgabe einer »geistlichen Ökumene zum Zeugnis für die Welt« (10). Denn Ratzingers Konzentration auf die Vermittlung der in Jesus Christus gegebenen Wahrheit und auf einen entsprechend theologischen Zugang zur historisch-kritischen Methode korreliere mit der Zielsetzung »schriftgebundener evangelischer Theologie« (14). Der Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Kurt Kardinal Koch, unterstreicht in seiner Replik auf die evangelischen Beiträge die »Zeugnis-Ökumene« als gemeinsame Suche und Verkündigung der in Jesus Christus gegebenen universalen Wahrheit (237). Deshalb bezeichnet der Hg. abschließend den Band als Einladung für eine solche »Zeugnis-Ökumene«, »für die das gemeinsame Studium der Bibel und das Fragen nach der Wahrheit elementar wichtig sind« (238). Der Aufruf aus 3. Joh 8, »Mitarbeiter der Wahrheit« zu werden, den Ratzinger als Motto seiner Bischofsweihe wählte, gelte für alle Christen (239).
Mit dieser harmonischen Grundausrichtung unterstreichen die Vf. zwar die Annäherung von römisch-katholischer Kirche und frei kirchlichem Protestantismus in ihrer Bedeutung für die gemeinsame Verkündigung des Evangeliums, aber sie vernachlässigen dabei zugleich Problemstellungen, die nicht unerheblich sind, und bauen zuweilen unangemessene Fronten zum übrigen Protestantismus auf. Ökumenisch orientiert man sich an Walter Kardinal Kaspers Ausrichtung an einer »geistlichen Ökumene«, wodurch eine Verschiebung »vom Modus der Lehrverkündigung zum Grund und Gegenstand der Lehrverkündigung« (11) gesucht wird, nämlich zu dem in Christus offenbaren dreieinigen Gott und seiner Hinwendung zur Welt (14). Dass Modus und Gegenstand der Verkündigung jedoch nicht immer zu trennen sind, tritt dabei in den Hintergrund, was zu den angedeuteten Defiziten führt, während die Konzentration auf die gemeinsame Glaubensgrundlage und ihre hermeneutischen Zugänge durchaus an etliche bedeutende theologische Grundorientierungen zu erinnern vermag. Im Blick auf die einzelnen Beiträge kann hier beides nur knapp angedeutet werden.
Der Neutestamentler Roland Deines (Nottingham) verteidigt in Auseinandersetzung mit den Reaktionen exegetischer Fachkollegen auf Ratzingers Jesus-Buch dessen »methodologische Offenheit für das Eintreten Gottes in die menschliche Geschichte« (62). Denn Ratzinger kritisiere zu Recht an einer »rein historischen« Methode, die Gottes Handeln durch Jesus in der Geschichte ausklammere, dass sie das biblische Zeugnis so nicht angemessen erfassen könne. »D. h., wer an den in der Bibel bezeugten Gott glaubt, kann und braucht nicht so zu tun — insofern für diese Weltsicht ein ›epistemischer Status‹ reklamiert wird —, als könne das Leben Jesu ohne das Handeln dieses Gottes beschrieben werden.« (65) Deshalb sei eine weitere hermeneutische Auseinandersetzung über das Verständnis von »Historizität« sinnvoll. Rainer Riesner, ebenfalls Neutestamentler (TU Dortmund), verweist darauf, dass unterschiedliche exegetische Orientierungen heute quer durch die Konfessionen gehen. Auch er würdigt die Wahrnehmung des Eingreifens Gottes in die Geschichte, weshalb die Auferstehung nicht wie bei Ratzingers Kritiker Notger Slenczka darauf reduziert werden könne, dass die Vergangenheit des Lebens Jesu im Bewusstsein der Jünger gegenwärtig werde. »Ob Jesus nur war oder ob er auch ist — das hängt an der Auferstehung.« (81) Deshalb sei folgender Einsicht Ratzingers zuzustimmen: »›Nur ein wirkliches Ereignis von radikal neuer Qualität konnte die apostolische Predigt ermöglichen, die nicht mit Spekulationen oder inneren, mystischen Erfahrungen zu erklären ist. Sie lebt in ihrer Kühnheit und Neuheit von der Wucht des Geschehens, das niemand erdacht hatte und das alle Vorstellungen sprengte‹ (Jesus II, 301). « (84) Die über eine solche sachliche und berechtigte Auseinandersetzung hinausgehenden pauschalen Seitenhiebe gegen den »Neoprotestantismus« insgesamt, der das sola scriptura nicht mehr ernst nehme, werden der evangelischen Theologie allerdings nicht annähernd gerecht.
Die Kirchengeschichtlerin der Freien Theol. Hochschule Gießen, Ulrike Treusch, hebt hervor, dass Ratzinger sein Wahrheitsverständnis im Rückgriff auf Augustin entfaltet, der auch für Luther als bedeutendster patristischer Zeuge gegolten habe. Während sie dabei Ratzingers Traditionsverständnis (»Überhang von Offenbarung über Schrift«) aus protestantischer Sicht zu Recht kritisiert — ohne auf inhaltliche Konsequenzen einzugehen —, setzt sie sich mit Ratzingers Postulat der natürlich gegebenen vernünftigen Einsicht in die Weihen nicht einmal auseinander (114). Deshalb kann ihre Schlussfolgerung, Ratzingers Wahrheitsanspruch gegenüber dem gesellschaftlichen Relativismus könne »ein Denkanstoß für die protestantische Theologie sein« (115), nur ambivalent bleiben. Der Systematiker Werner Neuer (Theol. Seminar St. Chrischona bei Basel) zeigt im Blick auf Ratzingers Religionstheologie, dass interreligiöser Dialog für Ratzinger keine Relativierung der Wahrheit sein darf, sondern auf deren Darlegung und Erkenntnis zielt, was Luthers Einsicht in die Gewissheit des Evangeliums entspreche (123). Nach Ratzinger können nichtchristliche Religionen sowohl Elemente der Heilsvorbereitung enthalten (z.B. Öffnung für Gott) als auch Hindernisse  für das Heil (z.B. Aberglaube). Christoph Raedel kritisiert in seinem eigenen spezifischen Beitrag über Ratzingers Ethik dessen mangelnde Wahrnehmung der durch die Sünde korrumpierten menschlichen Vernunft und Freiheit (zu optimistische natürliche Wahrheitserkenntnis) sowie Ratzingers Vernachlässigung des Hl. Geistes, der allen Christen das Wahrheitszeugnis ermögliche (168ff). In der mit Christus gegebenen einen Wahrheit, die Ratzinger als Voraussetzung einer Nachfolgeethik betont, sieht Raedel die materialen ethischen Gemeinsamkeiten evangelischer und katholischer Theologie, wenn etwa nach Ratzinger die Demut des Gekreuzigten »Mitteln des Zwanges und der Gewalt in der Kommunikation des Glaubens keinen Raum« (171) lasse. Die Frage, wie ernst Ratzinger das in der Auseinandersetzung mit kritischen Theologen in seiner eigenen Kirchen genommen hat, stellt Raedel nicht.
Auch die pfingstlerische Theologin Cheryl Bridges Johns (Cleveland) sieht Berührungspunkte mit Ratzingers Leidenschaft für die Wahrheit, wofür bei den Pfingstlern die Reinigung durch den HI. Geist stehe, den Ratzinger allerdings in seiner christozentrischen Ausrichtung an der Einheit Gottes vernachlässige. Dadurch werde die Kirche zu einem Kollektivsubjekt, das die Geistbegabung der Einzelnen ebenso in den Hintergrund dränge wie die Geistbegabung der Frauen (178ff). Im Blick auf die gesellschaftspolitische Orientierung der Befreiungstheologie fügt sie hinzu: »Der traditionelle Katholizismus hat es ebenso wie die Basisgemeinden versäumt, diese Kraft anzubieten.« (183) Das erkläre den Erfolg der Pfingstbewegung, die zugleich »ein Signal für das Ende der protestantischen Ära« (188) darstelle und gemeinsam mit dem Katholizismus eine neue Theonomie anbieten könne. Diese Aussage ist der Höhepunkt völlig unqualifizierter Frontstellungen gegenüber dem übrigen Protestantismus. Geoffrey Wainwright, Systematiker in Durham, bekräftigt Ratzingers Auffassung, die Liturgie könne die sie umgebende öffentliche Kultur sichten und inspirieren, sodass sie »ihr Potential entfalten kann, auf eine gegenwärtige Gesellschaft einzuwirken, die auf intellektueller, sozialer, moralischer, ästhetischer und religiöser Ebene von einem irrigen lähmenden Relativismus bestimmt ist« (220). Abgesehen von der Frage, ob dieser liturgische Universalanspruch wirklich greift, kann es nur verwundern, dass der evangelische Theologe Wainwright zur Durchsetzung dieser liturgischen Kraft auf die lehramtliche Macht Ratzingers als Papst Benedikt XVI. setzt (220).
In seiner Replik auf die evangelischen Beiträge aus dem vorwiegend freikirchlich-evangelikalen Spektrum erörtert Kurt Kardinal Koch noch einmal die Bedeutung, die Ratzingers Konzentration auf die Vermittlung der in Christus gegebenen Wahrheit für die Überwindung der »Diktatur des Relativismus« zukommt. Gegenüber der relativistischen Gegenwartskultur und rein pluralistischen Religionstheorien sei der in Christus gegebene Wahrheitsanspruch wahrzunehmen: »Wer sich diesem Anspruch stellt, dem muss es von selbst um die Glaubwürdigkeit der Wahrheit und die Vernünftigkeit des Glaubens gehen.« (224) Im christlichen Glauben gehe das Wort Gottes dem Denken immer voraus, weshalb die Vernunft das »Nach-Denken« der Glaubenswahrheit vollziehe. »Die Theologie kann das Wort Gottes nicht erzeugen; sie kann es vielmehr nur bezeugen«, sie kann es »nicht herstellen«, sondern »nur darstellen« (226). Damit unterstreicht Koch die hermeneutische Grundorientierung der Beiträge des Bandes, mit dem Ergebnis, dass sich Christen in dieser Ausrichtung als »Mitarbeiter der Wahrheit« verstehen, »und zwar in jenem ökumenischen Geist, der in jedem Beitrag des vorliegenden Bandes durchscheint« (237). Wie diese gemeinsame Suche und Bezeugung allerdings zu verstehen ist, wenn Koch zugleich die »unverzichtbare« Bedeutung des kirchlichen (katholischen) Lehramts hervorhebt (232), bleibt offen.
Die zuletzt aufgezeigte Ambivalenz macht deutlich, dass der harmonische und optimistische Grundton des Bandes mit dem vermeintlichen Paradigmenwechsel vom Modus der Lehrverkündigung zum Gegenstand der Lehrverkündigung (11) der ökumenischen Wirklichkeit nicht standhält, in der beide Dimensionen vielfach nicht zu trennen sind. Bei aller positiven Würdigung von Ratzingers Verankerung des Glaubens in der Wahrheit Christi übersehen die Vf. des Bandes die Bedeutung von Ratzingers monistischer Trinitätslehre für sein entsprechend monistisches Kirchenverständnis, das die verstärkte Vorordnung des hierarchischen Lehramts zur Folge hat und ein entsprechendes Licht auf die Rolle aller Christen bei der Suche und Verkündigung der Wahrheit wirft. Auch im Blick auf die Bewertung des übrigen Protestantismus, der pauschal als nicht biblisch orientierter Neoprotestantismus abgestempelt wird oder dem gar das Ende der Ära des Protestantismus bescheinigt wird (188), enthalten manche der Beiträge undifferenzierte und unsachgemäße Züge. Dennoch ist es das Verdienst des Bandes, angesichts vielfältiger ökumenischer Probleme, die der Hg. in seinem Epilog auch kurz benennt, in Konzentration auf die gemeinsamen Glaubensgrundlagen eine »Zeugnis-Ökumene« zu suchen, die dem Auftrag der Christen gerecht wird: »Denn Gott möchte, dass die Wahrheit seiner Liebe — wie auch die Liebe zur Wahrheit — im Leben aller Christen eine für andere erfahrbare Gestalt gewinnt.« (240) In dieser Ausrichtung enthalten einige Beiträge hinsichtlich der Erkenntnisbedingungen für die christliche Wahrheit und der theologischen Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Methode sowie bzgl. der gemeinsamen Herausforderungen für die Kirchen durchaus etliche bedenkenswerte Hinweise.
Matthias Haudel

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»Mitarbeiter der Wahrheit«

Christuszeugnis und Relativismuskritik bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. aus evangelischer Sicht
Raedel, Christoph/Deines, Roland/Johns, Cheryl Bridges/Koch, Kurt /Neuer, Werner/Riesner, Rainer/Treusch, Ulrike/Wainwright, Geoffrey

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